13. Mar 2025 • Allgemein 

Aus unserer Arbeit: Ableismus im ÖPNV

In der Rubrik „Aus unserer Arbeit“ veröffentlichen wir in regelmäßigen Abständen anonymisierte Fälle aus unserer Beratungsarbeit als Einblick in die Antidiskriminierungsberatung in Sachsen. Wir danken allen Ratsuchenden, die bereit sind, ihre Erfahrungen anonym in der Öffentlichkeit zu teilen!
Weitere Fälle finden Sie auf unserer Webseite unter "Beratung".

Der Fall

Ein ratsuchender Rollstuhlnutzer und wurde auf einer Buslinie, die er regelmäßig nutzt, mehrfach vom selben Fahrer nicht mitgenommen. Begründet wurde dies damit, dass es keinen Platz für den Rollstuhl gäbe. In mindestens einem Fall war es so, dass sich vermutlich nicht geheingeschränkte Fahrgäste auf den klappbaren Sitzplätzen befanden, die in dem Bereich des Busses installiert sind, der für Rollstuhlfahrer*innen bzw. mobilitätseingeschränkte Fahrgäste und für Kinderwägen ausgewiesen ist. Der Fahrer weigerte sich, die Einstiegsrampe auszuklappen. Dem Ratsuchenden wurde schließlich durch andere Fahrgäste in und aus dem Bus geholfen. Die Personen auf den klappbaren Sitzen standen auf und er konnte die gesamte Strecke mitfahren, es war letztlich also durchaus Platz für ihn vorhanden. Der Ratsuchende beschwerte sich in schriftlicher Form bei dem betreffenden Verkehrsunternehmen, von welchem er folgende Antwort erhielt: “Rollstühle (einschl. Elektrorollstühle) und vergleichbare zugelassene Hilfsmittel werden nur dann befördert, wenn die Voraussetzungen gemäß Teil D Anlage 2 der Beförderungsbedingungen und Tarifbestimmungen des jeweiligen Verbundes gegeben sind. Nach Möglichkeit soll das Betriebspersonal dafür sorgen, dass [...] mobilitätseingeschränkte Menschen [...] nicht zurückgewiesen werden, sofern es die Bauart des Fahrzeuges zulässt und keine Verminderung der Verkehrssicherheit eintritt. Das Betätigen von Einstiegsrampen ist nur dem Fahrpersonal gestattet. Die Entscheidung über die Mitnahme liegt beim Betriebspersonal.” Der Ratsuchende wollte sich bei uns im Rahmen einer Beratung zu weiteren Handlungsmöglichkeiten informieren. Außerdem wünschte er sich eine professionelle Einschätzung, ob wir seine Erfahrungen als Diskriminierung einschätzen, da die Antwort des Unternehmens Zweifel in ihm ausgelöst hatte.

Rechtliche Einschätzung

Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verbietet unter anderem Benachteiligungen wegen einer Behinderung beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen gem. § 19 Absatz 1 AGG. In diesem Fall liegt unserer Einschätzung nach eine mittelbare Diskriminierung vor, da die scheinbar neutrale Regelung die Mitnahme von mobilitätseingeschränkten Personen dem Betriebspersonal zu überlassen, Freiräume für diskriminierende Entscheidungen lässt. Diese Regelung benachteiligt nach §1 AGG geschützte Personen in besonderer Weise (§ 3 Abs. 2 AGG). In dem geschilderten Fall führte dies dazu, dass der Busfahrer den vermeintlich sachlichen Rechtfertigungsgrund des überfüllten Busses nutzen wollte, um dem Ratsuchenden den Zugang zu verweigern, obwohl genügend Platz für alle Fahrgäste im Bus vorhanden war. Diese Praxis steht darüber hinaus den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention entgegen, Menschen mit Behinderungen uneingeschränkten Zugang zu u.a. Transportmitteln zu gewährleisten.

Intervention und Ergebnis

Im ersten Schritt führten wir ein für den den Ratsuchenden stärkendes Beratungsgespräches. Wir schauten uns auf der Grundlage seiner Schilderungen die Situation gemeinsam an und arbeiteten heraus, warum auch wir diese als diskriminierend einschätzen und erklärten ihm die Grundsätze des AGG. Außerdem recherchierten wir die Beförderungsrichtlinien des Unternehmens und fanden dabei Paragraphen, die entgegen der Stellungnahme des Verkehrsunternehmens für eine Mitnahme des Ratsuchenden sprachen, im Antwortschreiben jedoch außer Acht gelassen wurden. Infolgedessen wandten wir uns an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS), um eine juristische Einschätzung zu erhalten. Ziel war es zu erfahren, ob und inwiefern die im Antwortschreiben zitierten Beförderungsbedingungen eine Diskriminierung im Sinne des AGG darstellen. Im zweiten telefonischen Gespräch informierten wir den Ratsuchenden über die juristische Einschätzung der ADS. Außerdem besprachen wir gemeinsam die Option, dass wir uns in seinem Auftrag erneut an das Verkehrsunternehmen wenden sowie eine Geltendmachung formulieren können, um die Möglichkeit offen zu halten rechtliche Schritte einzuleiten.

Kommentar

Der Ratsuchende entschied sich, den Vorfall aufgrund persönlicher Umstände nicht weiter zu verfolgen. Der Hauptgrund war der hohe Energieaufwand, den ein Beschwerdeprozess, insbesondere auf juristischer Ebene, für Betroffene mit sich bringt. Zum aktuellen Zeitpunkt verfügte der Ratsuchende nicht über die nötigen Ressourcen, um sich diesem Prozess zu widmen. Für ihn war es ausreichend zu wissen, dass er die Situation und seine Diskriminierungserfahrungen richtig eingeschätzt hat und dass er zukünftig bei ähnlichen Vorfällen die Möglichkeit hätte, juristisch dagegen vorzugehen.