Quelle: Netzwerk rassismuskritische Migrationspädagogik
Redaktion: Andreas Foitzik, Isabelle Ihring, Annita Kalpaka, Rudolf Leiprecht, Claus Melter, Ayça Polat
Wie viele andere Menschen sind wir erschrocken und besorgt angesichts der eskalierenden Debatte um Migration im aktuellen Bundestagswahlkampf. Wie viele andere Menschen sind wir erschrocken und besorgt, wie durch eine zunehmende Angleichung der Politik an die AfD-Programmatik kaum mehr eine Partei die Migrationsgesellschaft sowie die Grund- und Menschenrechte offensiv verteidigt. Wie viele andere Menschen solidarisieren wir uns mit all den Menschen, die aufgrund der verallgemeinernden Stereotypisierungen und Hetze in den letzten Wochen von rassistischen Übergriffen betroffen sind. Dabei ist dieses ‚Wir‘ kein einheitliches. Viele von uns sind selbst bedroht von rassistischen Angriffen und Gesetzesverschärfungen, viele von uns sind dies nicht oder zumindest nicht in gleicher Weise.
Als Pädagog_innen und Vertreter_innen der Sozialen Arbeit[1] sehen wir es als unseren professionellen Auftrag, diesen Entwicklungen entgegenzutreten und mit allen Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, in Vertretung der Adressat_innen sowie in Solidarität mit von Übergriffen und Gesetzesverschärfungen betroffenen Kolleg_innen uns für die Rechte aller Menschen einzusetzen.
Wir beobachten mit großer Sorge, wie immer mehr das Reden über Migration das Schweigen über tatsächliche soziale und gesellschaftliche Herausforderungen ‚organisiert‘. Die Reaktionen in Politik und Medien nach der tödlichen Amokfahrt in Magdeburg sowie dem tödlichen Angriff auf eine Kindergruppe in Aschaffenburg sehen wir als Blaupause eines Narrativs, das seit vielen Jahren tief in unserer Gesellschaft verankert ist. Ein Narrativ, das ermöglicht, jedes Problem in der Gesellschaft als Folge von Migration zu beschreiben, ohne dass dafür ein sachlicher Zusammenhang aufgezeigt werden muss. Rassistisch pauschalierende Bilder können jederzeit aktiviert werden. Dies führt dazu, dass weitere Fragen, die meist wesentlich relevanter sind, nicht mehr gestellt oder ausgeklammert werden.
All dies hat weitreichende Konsequenzen und muss uns auch in unseren professionellen Zusammenhängen systematisch beschäftigen, denn:
- Ganz unmittelbar von den aktuellen Diskursen und den angestrebten Gesetzesverschärfungen betroffen sind die als ‚Sündenböcke‘ konstruierten Anderen, die im Alltag eine zunehmende Normalisierung von rassistischen Zuschreibungen bis hin zu gewalttätigen Übergriffen erfahren.
- Die so geframten gewaltvollen Handlungen werden von den Akteur_innen politischer Parteien instrumentalisiert; dies führt dazu, dass eine immer weitgehendere Entrechtung von Geflüchteten und migrantisierten Menschen öffentlich gefordert wird.
- Durch die Verschiebung des Diskurses wird der zunehmende Abbau von psycho-sozialen, beratenden und unterstützenden Angeboten in der Flüchtlingssozialarbeit, sowie in vielen anderen Feldern sozialer und pädagogischer Arbeit, ermöglicht.
- Aber auch wir selbst, die professionellen Akteur_innen in den Handlungsfeldern Sozialer Arbeit, Bildung und Beratung, sind von diesen Diskursen beeinflusst und nicht davor gefeit, in konkreten Einzelfällen aufgrund einer zu schnellen, nahegelegten Antwort nicht mehr nach allen relevanten Hintergründen zu fragen.
- Nicht zuletzt ermöglicht dieses Narrativ – wie wir in den letzten Tagen erleben durften – eine Verschiebung des politisch Möglichen und eine schleichende Aushöhlung der Bedeutung von Grund- und Menschenrechten.
Daher erklären wir, dass wir …
- … alles in unseren Möglichkeiten Stehende tun wollen, um die physische und psychische Unversehrtheit unserer Adressat_innen zu verteidigen, wenn sie gewalttätige Übergriffe erleben oder aufgrund von Gesetzesverschärfungen mit existentiellen Unsicherheiten und Ausgrenzungen konfrontiert sind. Dies schließt auch die Unversehrtheit der eigenen Kolleg_innen in heterogenen Teams sowie den Schutz von migrantischen Selbstorganisationen mit ein.
- … öffentlich unsere Perspektive einbringen wollen und uns beispielsweise nach Vorfällen wie in Aschaffenburg der Pauschalierung und Ethnisierung der Debatte entgegenstellen, um andere Fragen zu Gehör zu bringen (etwa nach der Qualität der psycho-sozialen Versorgung auch von Geflüchteten), andere fachliche und rechtliche Hintergründe herauszuarbeiten und damit auch dem Abbau von Rechten für Geflüchtete und weiteren vulnerablen Gruppen entgegenzuwirken.
- … dem Abbau von Leistungen in der Flüchtlingssozialarbeit und anderen Bereichen der Arbeit mit Personen mit Migrationsgeschichte entgegentreten, um eine Soziale Arbeit nach ethisch vertretbaren Standards und eine angemessene Versorgung von Geflüchteten zu ermöglichen.
- … in unseren Teams und Kollegien, aber auch in der Bildungsarbeit, den Vorlesungen und Seminaren, die eigene Arbeit kritisch reflektieren wollen, damit diese Pauschalisierungen und rassistischen Konstruktionen nicht unbemerkt in unseren Organisationen wirksam werden und sich in der Arbeit mit den Adressat_innen reproduzieren.
- ... die Grund- und Menschenrechte als unverhandelbares ethisches Prinzip moderner Gesellschaften und als eine Grundlage unserer Profession verteidigen werden – wohlwissend, dass sie (leider) noch nie für alle Menschen gleichermaßen gegolten haben.
Um dem vorherrschenden Narrativ die Macht zu nehmen, müssen wir gemeinsam auch an anderen Narrativen arbeiten
Dazu gehört auch eine Idee dazu, wie es wäre ...
- in einer Gesellschaft zu leben, die nach Gewaltereignissen wie in Aschaffenburg sich Zeit nimmt, innezuhalten und aus Respekt für all die Menschen, die direkt oder indirekt davon betroffen sind, die Räume eröffnet, um gemeinsam zu trauern und sich gegenseitig zu stärken.
- in einer Gesellschaft zu leben, die allen Schutz und Sicherheit bietet (auch Geflüchteten und Migrant_innen); eine Gesellschaft, in der alle angstfrei und so sicher wie irgendmöglich leben können; eine Gesellschaft, in der alle sich genau darum auch bemühen.
- in einer Gesellschaft zu leben, die alle zur Verfügung stehenden Mittel nutzt, um soziale Gerechtigkeit herzustellen, für alle; eine Gesellschaft, die schließlich auch den Menschen unterstützend zur Seite steht, die in prekären, marginalisierenden und krisenhaften Verhältnissen krank geworden sind.
Wir wollen mit dieser Stellungnahme dazu beitragen, die Debatte auf eine fachlich-professionelle Grundlage zu stellen und damit auch angemessene politische Entscheidungen zu befördern.
Aufruf unterzeichnen!
Als ADB Sachsen haben wir diesen Aufruf mitgezeichnet. Auch ihr könnt das tun.
Dafür einfach das Formular auf der Webseite des Netzwerkes ausfüllen.
Dort findet ihr auch eine Liste der Unterzeichner*innen.