12. Feb 2019 • Allgemein 

Wie wir dem Rassismus in der Mitte unserer Gesellschaft begegnen können

Eine Menschenmenge, künstlerisch verzerrt

Ein Kommentar vor dem Hintergrund des NSU-Komplexes und der jüngsten Ereignisse in Sachsen

Wir, als Antidiskriminierungsbüro Sachsen e.V., nehmen das NSU-Urteil vom 11.07.2018 und die jüngsten Ereignisse in Sachsen zum Anlass, um über Rassismus zu reden. Wir möchten dabei auf unseren Antidiskriminierungsansatz aufmerksam machen, um Handlungsmöglichkeiten gegen den in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft verbreiteten Alltagsrassismus aufzuzeigen.

Vor allem über diesen Rassismus in der Mitte unserer Gesellschaft muss offen geredet werden. Denn dieser bildet den Nährboden und die Triebkraft für Rechtsterrorist_innen. Die Anerkennung und kritische Auseinandersetzung mit Rassismus ist für ein friedliches Zusammenleben aller Menschen in unserer Gesellschaft unerlässlich. Das hat der NSU-Komplex in seiner ganzen Bandbreite besonders eindrücklich gezeigt, wobei auch ein institutioneller Rassismus in einem erschreckenden Ausmaß zu Tage getreten ist.

Diesem Rassismus der Mitte setzen wir unser Ziel einer diskriminierungssensiblen Alltagskultur entgegen. Neben der Anerkennung, dass Diskriminierung eine gesellschaftliche Realität und eine Alltagserfahrung vieler Menschen ist, bedeutet dies zusammengefasst, die konkreten Handlungskompetenzen von Betroffenen und Diskriminierungsverantwortlichen auf individueller und institutioneller Ebene zu stärken und zu erweitern, um diskriminierende Praxen und Strukturen aufzubrechen und langfristig zu verändern.

Rassismus in der Mitte unserer Gesellschaft verstehen und dagegen vorgehen

Nicht zuletzt aus unserer täglichen Beratungspraxis wissen wir, dass auch zwölf Jahre nach Verabschiedung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) rassistische Diskriminierung eine gesellschaftliche Realität und für viele Menschen alltägliche Erfahrung ist.

Ein großes Problem dabei ist die weitgehend fehlende Anerkennung der Existenz von Rassismus in breiten Teilen der Gesellschaft und das damit verbundene Fehlen einer ernsthaften und kritischen Auseinandersetzung. Rassismus ist nach wie vor ein Tabuthema. Gleichzeitig führt der Begriff Rassismus zu Abwehrreaktionen, weil der Begriff mit Absicht und individueller Schuld verbunden und weniger in seiner Wirkung und als System verstanden wird. Es geht in erster Linie jedoch nicht um Schuld oder absichtsvolles Handeln. Vielmehr geht es darum, Rassismus als solchen zu erkennen und anzuerkennen.

Um diesem Ziel näher zu kommen, setzen wir als Beratungsstelle auf verschiedenen Ebenen von Diskriminierung an.

Erstens bieten wir Betroffenen qualifizierte Antidiskriminierungsberatung an. Das heißt, dass wir zunächst einen geschützten Raum für die Verarbeitung des Erlebten und die (Wieder-)Erlangung von Handlungsfähigkeit anbieten. Darüber hinaus unterstützen wir Betroffene bei der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur Einforderung ihres Rechts auf Gleichbehandlung und Respekt sowie bei der Veränderung diskriminierender Zustände und Strukturen.

Zweitens setzen wir an der Ebene der Mehrheitsgesellschaft an, die wir für Formen und Auswirkungen von Diskriminierung sensibilisieren. Dazu bieten wir Trainings, Workshops und Schulungen zu den Themen Diskriminierung und Antidiskriminierung, zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG), zu einzelnen Diskriminierungsmerkmalen sowie zur Barrierefreiheit an. Dabei vermitteln wir Wissen und Hintergrundinformationen über verschiedene Benachteiligungen mit dem Ziel der Teilhabegerechtigkeit für alle Menschen. Diskriminierende Strukturen und Ausschlussmechanismen sollen erkannt und verändert werden.

NSU-Komplex, institutioneller Rassismus und das geplante Sächsische Polizeigesetz

Neben dem alltäglichen Rassismus in der Mitte unserer Gesellschaft offenbarte der NSU-Komplex auch einen institutionellen Rassismus. Dieser Begriff beschreibt das Problem, dass Institutionen rassistische Zuordnungen übernehmen und strukturell verfestigen, wodurch sich für die betroffenen Menschen systematische Benachteiligungen ergeben.

Der institutionelle Rassismus beim NSU-Komplex hat sich durch die Art und Weise der Ermittlungen und die daraus resultierende Kriminalisierung der Betroffenen offenbart. Über mehrere Jahre haben die zuständigen Behörden auf allen Ebenen gegen die Angehörigen der Ermordeten und die Opfer der Bombenanschläge ermittelt. Dabei wurden diese rassistisch kriminalisiert und öffentlich in den Fokus der Verdächtigungen gerückt.

Die auf rassistischen Stereotypen beruhende Kriminalisierung der Opfer und die rassistischen Ermittlungen gegen die Betroffenen haben diesen Menschen großen Schaden zugefügt. Das Vertrauen, insbesondere von Menschen türkischer Herkunft, in den Staat und seine Institutionen wurde nachhaltig erschüttert, das Gefühl Bürger 2. Klasse zu sein, verstärkt.

Mit seinen Morden und Anschlägen verfolgte der NSU das Ziel, "Angst und Schrecken" bei denjenigen zu verbreiten, die nach ihrer menschenverachtenden Weltsicht nicht zur deutschen Gesellschaft gehören. Aus diesen Gründen sind bei politisch motivierten Straftaten die Grundrechte potenzieller Opfer und die freiheitlich demokratische Grundordnung besonders gefährdet. Umso wichtiger wäre ein entschlossenes und konsequentes Vorgehen der Sicherheitsbehörden gewesen. Stattdessen wird bis heute eine vollständige Aufklärung des NSU-Komplexes durch die Vernichtung von Beweisen und Vertuschung in den betreffenden Behörden verhindert.

Der NSU-Fall offenbart eine mangelnde Sensibilität für Rassismus und andere Diskriminierungsformen in den Sicherheits- und Ermittlungsbehörden, insbesondere bei Polizei und Justiz. In Sachsen wird momentan der Entwurf für ein neues Polizeigesetz diskutiert und voraussichtlich im März 2019 beraten. In der jetzigen Fassung wird das Gesetz das Rassismus-Problem in den Polizeibehörden aber eher verstärken als vermindern. Deswegen braucht es jetzt zivilgesellschaftlichen Druck, um das Gesetz in dieser Form zu verhindern. Mit diesem Ziel hat sich das Bündnis „Polizeigesetz stoppen!“ gegründet.

Lücken im Diskriminierungsschutz schließen – durch ein Landesantidiskriminierungsgesetz

Dass Rassismus in letzter Konsequenz töten kann, hat der NSU-Komplex in aller Deutlichkeit gezeigt. Auf der einen Seite durch die NSU-Morde, auf der anderen Seite aber auch durch den Rassismus in seiner institutionalisierten Form. In dem Zusammenhang muss man sich vor Augen führen, was gewesen wäre, wenn die Ermittlungen nicht vom institutionellen Rassismus geleitet gewesen wären: Wenn z.B. den Angehörigen der Opfer und den Zeug_innen Glauben geschenkt und die Möglichkeit eines rassistischen Hintergrunds wirklich ernst genommen und dann in diese Richtung ermittelt worden wäre. Die Opferzahl wäre wohl geringer ausgefallen.

Auch vor diesem Hintergrund setzen wir als ADB Sachsen uns für ein Sächsisches Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) ein. Dieses könnte bestehende Schutzlücken schließen. So erfasst das AGG hoheitliches Handeln außerhalb des Arbeitsbereichs nicht und bietet damit keinen Schutz vor Diskriminierungen z.B. durch die Polizei. Ein LADG würde Betroffenen Diskriminierungsschutz vor hoheitlichem Handeln bieten. Gleichzeitig können durch ein LADG staatliche Institutionen zu diskriminierungsfreiem Verhalten und konkreten Maßnahmen gegen Diskriminierung verpflichtet werden.