22. Feb 2017 • Pressemitteilung 

Stellungnahme: Menschenrechtsverletzungen in Einrichtungen der Behindertenhilfe sind kein Einzelphänomen

Das Antidiskriminierungsbüro Sachsen e.V. fordert ein unabhängiges Beratung- und Unterstützungsangebot

Einem großen Teil der Menschen mit Behinderung, die in Sondereinrichtungen leben und arbeiten, wird die Ausübung grundlegender Menschenrechte verwehrt, weil ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung nicht ermöglicht wird. Die Kritik an institutionell organisiertem Leben und Arbeiten von Menschen mit Behinderungen ist nicht neu. Bereits seit den 1970er Jahren machen Aktivist_innen auf Menschenrechtsverletzungen in Einrichtungen aufmerksam.

Der RTL-Fernsehbericht vom 20.02.2017 greift diese Problematik ebenfalls auf: Mit versteckter Kamera ging eine Journalistin des „Teams Wallraff“ in Einrichtungen der Behindertenhilfe und filmte dort den Alltag, welcher für die Menschen mit Behinderung von Fremdbestimmung, Diskriminierung, Erniedrigung bis hin zu körperlichen Übergriffen geprägt ist.

Während nun viele Einrichtungen und Wohlfahrtsverbände eilig mit der Einschätzung an die Öffentlichkeit gehen, dass es sich um bedauerliche Einzelfälle handele, wird dabei das grundlegende Problem verkannt: Gewalt in Einrichtungen findet seinen Anfang in einem Menschenbild, dass Menschen mit Behinderung ihre Selbstbestimmung abspricht, und mündet in einem geschlossenen System, dass nur unzureichend öffentliche Kontrollen und Transparenz erfährt.

„Auch wir haben die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die in Sondereinrichtungen leben, von der Außenwelt abgeschottet und somit ihre grundlegenden Rechte eingeschränkt werden, als wir 2015 für die Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes Menschen mit Lernschwierigkeiten zu ihren Diskriminierungserfahrungen befragten wollten. Viele Einrichtungen verweigerten uns die Interviewerlaubnis mit der Begründung, dass die betreuten Menschen nicht diskriminiert würden, und ohnehin nicht verstehen könnten, was Diskriminierung sei", erklärt Antje Barten, Beraterin im Antidiskriminierungsbüro.
„Im Fernsehbericht wird auch deutlich: Menschen mit Behinderung, die in Einrichtungen leben, haben aufgrund drohender Sanktionen und fehlender Unterstützung oft nur unzureichende Möglichkeiten, sich zu beschweren und Rechte einzufordern. Die lebenslange Gewöhnung an einen paternalistischen Umgang erhöht zudem die Gefahr, die strukturelle Gewalt zu internalisieren und als Normalität anzuerkennen,“ so Antje Barten weiter.

Doch wie kann dieser Umstand geändert werden? Welche Möglichkeiten gibt es in bestehenden Strukturen, Menschen mit Behinderungen einen angemessenen Zugang zu Unterstützung und Informationen zu verschaffen?

Wir fordern:

  • Es braucht neutrale, externe Unterstützungspersonen, die die Arbeit der Heim- und Werkstattbeiräte stärkt und so eine Mitbestimmung über eine Alibi-Partizipation hinaus ermöglicht wird.

  • Es braucht unabhängige Unterstützungs- und Beschwerdeangebote, damit sich Menschen wehren können, ohne hierfür bestraft zu werden. Anstatt aufgedeckte Übergriffe als Einzelfälle zu begreifen, kann die Einrichtung einer zentralen Beschwerdestelle (beispielsweise bei einer Menschenrechtsorganisation) helfen, Menschenrechtsverletzungen frühzeitig zu erkennen und zu verhindern.

  • Menschen mit Behinderung, die u.a. in Sondereinrichtungen leben und arbeiten, sollten Ihre grundlegenden Menschenrechte kennen. Hier bedarf es flächendeckender Bildungsangebote, um die Menschen über die eigenen Rechte und Möglichkeiten, diese zu erkämpfen, zu informieren.

  • In Sachsen lebt, verglichen mit dem Bundesdurchschnitt, ein wesentlich höherer Anteil der Menschen mit Behinderung in stationären Einrichtungen. Langfristiges Ziel im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention muss es sein, diese Wohnformen zugunsten eines selbstbestimmten Lebens mit persönlicher Assistenz aufzulösen.[nbsp]

Pressekontakt:

Antje Barten, 0341/ 30 39 492